Bevorzugt das Gehirn bestimmte Satzstrukturen?

Gibt es grammatikalische Strukturen, die unserem Gehirn mehr liegen als andere? Forscher der University of Chicago, genauer die Autoren des Aufsatzes “The Natural Order of Events: How Speakers of Different Languages Represent Events Nonverbally” glauben, Hinweise darauf gefunden zu haben.

Ihre Untersuchung:

  • 10 Personen, deren Muttersprache Englisch ist
  • 10 Personen, deren Muttersprache Mandarin-Chinesisch ist
  • 10 Personen, deren Muttersprache Spanisch ist
  • 10 Personen, deren Muttersprache Türkisch ist

Diesen 40 Personen wurden kurze Videosequenzen einfacher Tätigkeiten vorgeführt (z.B. eine Frau dreht einen Türknopf) vorgeführt.
Danach wurden sie gebeten, den Inhalt dieser Videosequenzen

  • erst sprachlich wiederzugeben
  • und dann nur mit Gesten.

Bei der sprachlichen Wiedergabe folgten die Versuchspersonen den grammatikalischen Regeln ihrer Sprache. Die Sprecher des Englischen, Mandarin und Spanischen formten Sätze in der Reihenfolge

Subjekt – Verb – Objekt (SVO-Form),

also zum Beispiel: “Frau – dreht – Türknopf“. In dieser Form würde der Satz auch in der deutschen Sprache gebildet werden.
Die Sprecher des Türkischen bildeten den Satz in der Form:

Subjekt – Objekt – Verb (SOV-Form),

also z.B. “Frau – Türknopf – dreht“.

Bei der non-verbalen Wiedergabe wendeten alle Sprecher eine Form unabhängig von der eigenen Sprache an. Nämlich die SOV-Form.

Daraus schließen die Autoren des Artikels,

dass das menschliche Gehirn der SOV-Form zugeneigter ist. Die SOV-Form ist quasi die natürliche, ursprüngliche Form des Satzes. Moderne Sprachen haben sich durch eine Vielzahl kultureller Einflüsse von dieser “natural Order” abgewandt. Als weiteres Indiz hierfür führen sie die Satzstruktur moderner Gebärdensprachen an, die sich für gewöhnlich auch an die SOV-Form halten (die Deutsche Gebärdensprache übrigens auch).

Mal davon abgesehen, dass Formulierungen wie “natürlich” und “ursprünglich” die Ideen einer gemeinsamen Ursprache wieder anklingen lassen, ist die These der Autoren ja recht eindeutig: Es gibt bestimmte Sprachstrukturen, die das Gehirn bevorzugt. Woraus sich letztlich auch ableiten lässt, dass bestimmte höhere Hirnfunktionen unabhängig von dem kulturellen Kontext sind, in dem der jeweilige Mensch diese Funktionen entwickelt hat. Zumindest der Autor der News-Meldung auf der Website der Universität Chicago sieht dies ähnlich:

The research challenges the idea that the language we speak inevitably shapes the way we think when we are not speaking.

Zu deutsch:

Diese Forschungsergebnisse stellen die Idee in Frage, dass die Sprache, die wir sprechen unausweichlich unsere Art zu Denken formt, auch wenn wir gerade nicht sprechen.

Schlussfolgerungen dieser Reichweite rufen bei mir als Anhänger der kulturhistorischen Schule natürlich Skepsis hervor. Daher möchte ich im weiteren noch einen Blick darauf werfen, wie weit ich die Schlussfolgerungen der Autoren mitgehen kann:

Eine Aussage, die aus den Ergebnissen der Versuchsanordnung abgeleitet werden kann, die ich unterschreiben kann, ist folgende:

  • Offensichtlich tendieren Menschen, die durch Gesten einen Sachverhalt darstellen wollen, zur SOV-Form.

Ich finde auch einleuchtend, dass diese Tendenz einer inhärenten Logik geschuldet ist. Wenn eine Sachverhalt bildlich dargestellt werden soll, an dem zwei Objekte beteiligt sind (z.B. Frau und Türknauf), ist es logisch, zunächst die beiden Objekte zu beschreiben, und anschließend die Interaktion der beiden Objekte (z.B. Frau – Türknauf – dreht). Sich den Vorgang bildlich vorzustellen fällt leichter, wenn beide Objekte bekannt sind, bevor die Interaktion beschrieben wird. Schwieriger ist es, zunächst zur Kenntnis zu nehmen, dass eine Frau etwas dreht, und dann erst erfährt, was gedreht wird.
Wenn diese Logik, die ich in die Anwendung der SOV-Form bei bildlicher Darstellung hineinphantasiere, zutrifft, dann kann ich auch folgende Schlussfolgerung nachvollziehen:

  • Gebärdensprachen tendieren generell zur SOV-Form. Abweichungen von der SOV-Form entstehen durch kulturelle Einflüsse aus Lautsprachen.

Mit den vorliegenden Indizien für unhaltbar halte ich es:

  • allen Sprachen eine generelle Tendenz zur SOV-Form zu unterstellen,
  • unserem Denken eine generelle Tendenz zur SOV-Form zu unterstellen
  • oder eine Unabhängigkeit des Denkens von Sprache abzuleiten.

So weit gehen die Autoren des Papiers selbst aber auch gar nicht. Die Hauptautorin, Susan Goldin-Meadow, wird in der News-Meldung folgendermaßen zitiert:

“Our data suggest that the ordering we use when representing events in a nonverbal format is not highly susceptible to language’s influence […]. Indeed, the influence may well go in the other direction—the ordering seen in our nonverbal tasks may shape language in its emerging stages.”

Zu deutsch:

Unsere Ergebnisse weisen darauf hin, dass die Reihenfolge, die wir verwenden, wenn wir Ereignisse nonverbal repräsentieren nicht hochgradig von Sprache beeinflusst ist […]. Tatsächlich könnte der Einfluss durchaus in die andere Richtung wirken – die Reihenfolge, die an unseren nonverbalen Aufgaben ersichtlich ist, könnte entstehenden Sprachen ihre Form geben.

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